Wieder einmal hat die Öffentlickeit nichts anderes zu tun, als Schattenboxkämpfe zu führen. Ist denn wirklich das Kopftuch das größte Problem in unserem Bildungswesen? Kann es nicht viel eher sein, dass man da eine Lappalie in den Rang einer Glaubensfrage erhebt?
Ich habe sogar vielmehr das Gefühl, dass diese ganze Debatte einhergeht mit einer schleichenden Dämonisierung des Islams. Oder würde man bei einem jüdischen Lehrer, der immer sein Käppi trägt, so ein Fass aufmachen?
Hier noch ein sehr guter Kommentar zum Thema:
Zitat:
Kopfsache
Karlsruher Denksportstunde: Was wollen wir wissen?
Man weiß so wenig. Das Bundesverfassungsgericht jedenfalls wußte gestern, wie sein Vizepräsident Hassemer sagte, noch nicht genug über die Wirkungen einer kopftuchtragenden Lehrerin. Und gab die Frage deshalb an den Landesgesetzgeber weiter. Der nun erst einmal eine breite öffentliche Diskussion anstoßen soll, sich andererseits aber beim Gesetzgeben sputen muß, wenn er seinen Willen noch bekommen will, Fereshta Ludin den Beamtenstatus zu verwehren. Wie soll das von Hassemer vermißte Wissen nun produziert werden? Setzte Empirie nicht voraus, daß zunächst einmal die eine oder andere Kopftuchträgerin verbeamtet würde? Frau Ludin müßte zur Beamtin auf Probe in neuem Verstande ernannt werden - Versuchsperson in einem sozialwissenschaftlichen Großexperiment.
Karlsruhe hat gesprochen, und man weiß kaum mehr als vorher - da die Fünfermehrheit nicht ausschließt, daß schon die "abstrakte Gefahr" schädlicher Kopftuchfolgen, deren "bloße Möglichkeit", für ein Verbot genügt, wenn es in Gesetzesform ergeht. Die Wissenslücke könnte also für alle Zeiten offenbleiben. Man würde dem Parlament wohl im Zweifel unterstellen, daß es schon wissen wird, wovon es spricht - wie der Lehrer. In der Debatte fällt auf, daß einige Beteiligte nicht einmal wissen, was sie wollen. So ließ die in Fulda tagende katholische Bischofskonferenz am Vorabend der Urteilsverkündung verlauten, sie wolle sich nicht festlegen, sitze man doch, wie Kardinal Lehmann mit der ihm eigenen Prägnanz formulierte, "selbst im Glashaus".
In dieser Lage mögen weise Worte weiser Männer Gehör verdienen, deren neue, am Montag erscheinende Schallplatte auf den Schulhöfen viele Abnehmer auch unter den Vier- bis Vierzehnjährigen finden wird, die die Dreierminderheit vor den von Frau Ludins Kopftuch ausgehenden Strahlungen schützen will. Zwei Verse auf dem Album mit dem schönen Titel "Geräusch" lauten: "Doch weil Wissen nur belastet, woll'n wir nicht Mitwisser sein." Pascalsche Wetten über nicht auszuschließende katastrophische Folgen textiler Zeichen können nur ins Unheil führen, wo es einerseits um Grundrechte geht und andererseits um die Schule als den Raum geübter Toleranz, die mit der Neugier beginnt.
Wer es weniger mit Punkbands als mit den pädagogischen Klassikern hat, der lasse sich sagen: Stelle mer uns janz domm! Tun wir so, als wüßten wir nicht, daß im Kopftuch "in jüngster Zeit verstärkt ein politisches Symbol des islamischen Fundamentalismus gesehen" wird, weil das verstärkt in den Medien zu lesen ist. Eigentlich ist es für den Schüler gar nicht schwer zu verstehen, was es bedeutet, daß die Lehrerin mit Kopftuch vor die Klasse tritt. Es ist ihr unangenehm, barhäuptig unter Menschen zu gehen. Sie käme sich nackt vor, hat Frau Ludin gesagt. Und in der Stunde, in der das angesprochen würde, hätten die Schüler einen Begriff gelernt: Scham.
Die Lehrerin ist Vorbild, regt zur Nachahmung an. Das ist gewiß gesichertes pädagogisches Wissen. Aber weiß man denn nicht, wie die Vorbilder gekleidet sind, mit denen die Lehrer heute konkurrieren? Vierzehnjährige und noch jüngere Mädchen sind bereit, für ihr Recht auf Bauchnabelfreiheit zu demonstrieren. In welchem Sinne aber kann man, wie das Minderheitsvotum es tut, bei einer kopftuchtragenden Lehrerin, die den Mädchen nicht erzählt, sie kämen alle in die Hölle, wenn sie sich nicht ebenso züchtig kleideten wie sie, von einer "Demonstration religiöser Überzeugung" sprechen? Doch nur in dem Sinne, daß den Schülern demonstriert wird: Es gibt tiefsitzende Überzeugungen, die bei manchen Menschen das ganze Leben prägen und ihnen ein Verhalten gebieten, das anderen Menschen merkwürdig erscheint, auch wenn sie diesen anderen gar nichts Böses wollen. Das nennt man eben Religion.
Religion gehöre in den Religionsunterricht, war Guido Westerwelles Kommentar. Das ist nicht der Standpunkt des Grundgesetzes. Dessen "Offenheit und Toleranz" gehen dem Sondervotum zufolge "nicht soweit, solchen Symbolen Eingang in den Staatsdienst zu eröffnen, die herrschende Wertmaßstäbe herausfordern und deshalb geeignet sind, Konflikte zu verursachen". Es liegt eine Herausforderung im Kopftuch der Lehrerin: der Gedanke, daß die Kleiderordnung der H&M-Werbung nicht alleinseligmachend sein könnte.
Die Senatsmehrheit hat den Gesetzgeber an einen Scheideweg geführt. Er kann entweder mit dem Bundesverwaltungsgericht aus zunehmender religiöser Pluralität eine striktere Einschärfung des Neutralitätsgebots des Staates ableiten. Der Uniformzwang für Beamte würde nicht nur ganze Religionsgemeinschaften als ungeeignet für den Staatsdienst stempeln, sondern auch Schülern aus islamischen Familien strenger Observanz, von deren Religionsfreiheit selten die Rede ist, die Vorbilder im Lehrkörper nehmen. Die Alternative zur Zementierung der Parallelgesellschaft wäre eine Einzelfallprüfung, die es auf die Wahrheit des Bildungspolitikersatzes ankommen ließe, daß die Wahrnehmung von Differenzen die Erkenntnis fördert.
Werden die Herren Koch und Rüttgers ihre nächsten Wahlkämpfe mit Kopftuchgesetzkampagnen führen? Es erübrigte sich dann der Streit um die EU-Mitgliedschaft der Türkei, weil die EU der Türkei beitreten könnte. In den Vereinigten Staaten, die Staat und Kirche strikt trennen, ist die Freiheit der Lehrer und Schüler, ihren Glauben auch in öffentlichen Schulen nicht zu verleugnen, ein großes, mobilisierendes Thema der Konservativen. Dort haben auch die Kirchen verstanden, daß in der säkularen Gesellschaft alle Religionen im selben Glashaus sitzen. Wem es ein Skandal ist, daß Menschen ihr Glaube verbietet, sich nach der Mode zu richten, der werfe den ersten Stein.
PATRICK BAHNERS
Text: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.09.2003, Nr. 223 / Seite 33
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Also sowelche Politiker sollte man ihr Amt abnehmen!
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