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Alt 30-03-2003, 10:36
borish borish ist offline
Basishausmeister

 
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"Die Kinder des Krieges"...

So , dass dürfte ganz interessant und relevant für einige hier sein :

Teil 1.

"Im Stand der Unschuld
Eine Reise zu den Kindern des Krieges: Was treibt eine ganze Generation auf die Straße?

Der Himmel verdunkelt sich, die Sonne ist hinter Schlieren verschwunden, ein Schatten fällt auf das blasse Gesicht, das dem Jungen gehört, der seinen Arm in die Luft reißt und die Hand ausstreckt, den Zeige- und den Mittelfinger zu einem V gespreizt. Ein Vogel schwebt über den Menschen, die sich jetzt die Hände reichen und einen Kreis bilden, als ob sie gemeinsame Atemübungen machten, leer die Gesichter, voll die Herzen, verlorene Gestalten in einer kalten Welt. Auf Bagdad fallen Bomben, die Wüste ist weit, irgendwo landen Soldaten, Saddam Hussein trägt eine dicke Hornbrille. Im Cafe Einstein gibt es heute mittag Hühnchen in Zitronensauce.
Der Kellner steht an der Ampel und wartet, bis es grün wird. Er trägt ein weißes Hemd, eine schwarze Weste und eine weiße Schürze. Aus einem Kassettengerät kommt Musik im Reggae-Rhythmus, "siehst du die Sonne am Horizont", es ist ein Lied gegen den Krieg. Ein Autofahrer hupt. Auf einem der Schilder, die an den Bäumen und Laternenpfählen hängen, steht, daß die Berliner für den Frieden hupen sollen, überhaupt und besonders hier, vor der Botschaft der Vereinigten Staaten von Amerika. Noch ein Autofahrer hupt. Die Straßensperren am Boulevard Unter den Linden stehen seit dem 11. September 2001, die Plakate hängen hier seit letzter Woche. "Bush nach Den Haag" hat jemand auf eines geschrieben und "War is not the answer". Aber was ist die Frage? Es wird grün, der Kellner sammelt die Würde dieser zerfallenden Zeit und geht über die Straße zum Cafe Einstein. Die Kinder des Krieges schauen ihm nach.
Sie sitzen auf einer der Bänke, die auf dem sandigen Spazierstreifen zwischen den Fahrbahnen stehen, sechs oder sieben, eng aneinander gedrängt. Eine große Plastikflasche Coca-Cola haben sie mitgebracht und eine Flasche Wodka Gorbatschow. Einer von ihnen, Marco, hat den Arm um eines der Mädchen gelegt, in der anderen Hand hält er eine Zigarette. Er schaut herausfordernd in die Welt, er ist die Art von Typ, der immer Ärger mit den Lehrern hat.
"Seid ihr oft hier?"
"Jeden Tag, gleich nach der Schule und bis zehn Uhr abends."
Christian trägt weite Jeans, seine kurzen Haare sind in die Höhe gegelt, aus seiner Tasche fischt er ein Handy, das vibriert. Sie sind 15, 16 Jahre alt, sie gehen auf eine Realschule in Berlin-Pankow, sie sind am Donnerstag vorbeigekommen, auf dem Weg vom Alexanderplatz zum Brandenburger Tor, und kommen seitdem immer wieder, seit acht, neun Tagen. Donnerstag vor einer Woche sind 50000 Berliner Schüler gegen den Krieg im Irak auf die Straße gegangen. Wer ist Saddam Hussein?
"Ein Verbrecher."
"Und warum seid ihr hier?"
"Weil im Irak so viele Unschuldige getötet werden."
"Das heißt Zivilisten", sagt Marco.
"Blödmann", sagt Karo.
"Am 11. September haben wir doch alle mit den Amerikanern geweint", sagt Christian, "wenn wir das gewußt hätten."
Es ist der erste Krieg für Christian, Marco und Karo. Sie sind die Wendekinder, es ist ihre Welt, die gerade zerbricht. Sie sitzen am Rand dieses mit Plastikfolie, alten Liegen und Matratzen errichteten Friedenscamps gegenüber der amerikanischen Botschaft in Berlin. Ein paar Jugendliche haben sich das Gesicht weiß bemalt, ein paar tragen ein Peace-Zeichen im Gesicht. Einer hüpft im Rhythmus des Reggae, einer bepinselt Plakate. Einige Meter weiter haben sich die Protestroutiniers von der PDS aufgebaut, aber das interessiert Christian nicht wirklich. Und auch nicht die Glocke, die jede Viertelstunde einer der Männer läutet, die gelbe Regenjacken tragen, auf denen Greenpeace steht. Ihr Widerstand fußt in sich selbst; ihr Friedenswunsch ist aus sich selbst begründet; sie praktizieren eine historisch verwaiste Moral. "Jeder sollte gegen den Krieg sein", sagt Karo, "nicht speziell die Deutschen." Der Geschichtspragmatismus des Kanzlers ihrer Tage.
Sie heißen Marco oder Tim oder Katharina, sie wurden 1988 oder 1989 geboren, sie tragen die deutsche Gegenwart in sich, sie werden die deutsche Zukunft prägen - ein Blick in die Köpfe dieser Friedenskinder zeichnet das Bild dieses Landes in dreißig Jahren. Sie kennen kein Leben ohne Internet und Handy; ihre Eltern organisierten sich im SDS, sie organisieren sich per SMS, das ideologische Muster studentischen Widerstandes ist dem ideologiefreien Muster der Widerstandskommunikation gewichen. Deshalb das reibungslose Funktionieren der 50000-Schüler-Demonstration, das Pragmatische ihres Protestes, die Programmlosigkeit ihres Denkens. Sie sind sehr normal, sehr ruhig, sehr reflektiert. Und doch hat ihr Geschichtsverständnis etwas Margariniges, so glatt und leicht wirkt dieser Friedenswunsch.
Nun sitzen sie also dort, wo sich die Jugend, der alten Lehre nach jedenfalls, gar nicht wohl fühlt: mitten im sogenannten Mainstream, mitten im bundesdeutschen Friedenskonsens. Der reicht von der
"Bild"-Zeitung, die einfach mal still ist, bis zum Musiksender Viva, der das Peace-Zeichen in die Videos einblendet, seit Viva-Chef Dieter Gorny seine Redaktion ermutigt hat, "Flagge zu zeigen". Und weil diese Zeit so funktioniert, gibt es zur Lifestyle-Entscheidung Pazifismus gleich eine kleine Friedensindustrie. Da klingelt das Handy mit der Melodie von Nicoles "Ein bißchen Frieden", da hat der Computerspielesender Giga im Internet ein Friedensbarometer eingerichtet, das bei einem Prozent verharrt, da wirbt ein Radiosender mit dem Bild eines Kleinkinds, das die Haare wie ein Irokese geschoren hat und neben einem Nasenring auch eine Augenklappe mit Friedenstaube trägt, da gibt es Websites wie www.wirgegendenkrieg.de oder www.montagsdemonstrationen.net, da gibt es Aktionen wie die der Firma Universal, die Plakate drucken ließ mit der Aufschrift "Fuck War" für eine Friedensplatte, auf dem die ältesten Rohrkrepierer der Popgeschichte recycelt werden, Joe Cocker und die "Sounds of Silence". So eigen ist diese jugendliche Friedensbewegung, daß es ihnen schon gleich wieder die Augen und Ohren vollpappt. "Wir liefern den Input", hat der Sprecher von Universal stolz gesagt; einer der Leitartikler dieser Tage wußte gleich, daß diese Kinder großgeworden sind "mit einer Erziehung, die ihnen beigebracht hat, daß man Konflikte friedlich löst, daß man sich nicht prügelt, wenn man streitet"; und in manchen Feuilletons wird die "Bild"-Zeitung ausgewertet und ein "zärtlicher, ein humorvoller und ziemlich hedonistischer, folglich ein sehr sympathischer Protest" ausgemacht. Noch bevor sie es wußten, ist diese neue Jugendbewegung also in den Strudel der sekundären Wahrheiten geraten. Wie durch Zufall gibt es gerade auch die ersten Bücher, die von dieser Generation erzählen, etwa ein rosarotes Werk mit dem Bild einer besonders blauäugigen Sommersprossenträgerin auf dem Cover, das "Die neue Moral der Netzwerkkinder" (Piper Verlag) heißt und sich vor Optimismus kaum noch beherrschen kann. Diese "Millennials", wie sie hier genannt werden, sind engagiert, interessiert und individualistisch, sie suchen Werte und Halt und Strukturen und sind doch ganz pragmatisch. Nach einer dissidenten oder auch nur desinteressierten Generation sehen die Autoren nun eine eher konservative, auf jeden Fall aber konventionellere kommen. Vom Krieg ist nur am Rand die Rede; das Leben dieser pragmatischen Problemlöser gleitet recht angstfrei dahin.
Genau den umgekehrten Blickschwenk macht Christoph Amend, bei dessen Buch "Morgen tanzt die ganze Welt" man sich bis vor ein paar Tagen noch fragen konnte, wer hier eigentlich spricht und wem diese Geschichte erzählt wird von den Jungen, den Alten und vom Krieg, wie der Untertitel lautet (Blessing Verlag). Jetzt wird deutlich: Der knapp 30jährige Autor ist der ältere Cousin dieser neuen Widerstandskinder, ihn treibt der gleiche zornfreie Zweifel, eine ähnlich wohlmeinende Naivität wie sie, er erzählt sich selbst diese deutsche Geschichte und ihnen auch. Es ist im Grunde das alte Opa-erzähl-mir-vom-Krieg-Spiel, das diese Generation aber noch nicht gespielt hat. Amend erzählt, daß die "Moralkeule" ihm damals von den Geschichtslehrern über den Kopf gedroschen wurde und es schwerfiel, Konsequenzen für das eigene Leben zu ziehen: "Nie wurde diese Geschichte zu unserer Geschichte gemacht."
Amend gehört zu einer Generation, die lange genug das Gefühl hatte, sie springe von Eisscholle zu Eisscholle und komme dabei nie richtig voran. Und so forscht er nach der Strahlkraft des Krieges und taucht damit ein in die Ambivalenzen dieser Zeit - wo Leere ist, da sucht er Respekt, vor den Großvätern, bei den Großvätern. Zum Derrick-Autor Herbert Reinecker sagt er, die Schuldfrage sei doch längst geklärt, "ich bin nicht zu Ihnen gekommen, um Sie anzuklagen. Ich möchte verstehen, was Sie und Ihre Generation geprägt hat und wie Sie mit diesem Bruch in Ihrem Leben später umgegangen sind, was Sie davon meiner Generation weitergegeben haben." Es ist eine neue Unschuld, die dieses Land prägen wird.
Aus dem Kassettenrekorder zwischen den hupenden Autos scheppert jetzt Cat Stevens, "uh Baby, Baby, it's a wild world", daneben die Leute, die sich wieder an den Händen gefaßt haben und nun glücklich strahlen, etwas abseits steht ein junger Mann mit einer Brille, die ihm sehr weit auf die Nase gerutscht ist.

"

__________________

"Nun sitze ich hier...tieftraurig, einsam und alleine
Das Leben vor mir, ein nächster Schritt und es ist vorbei
Verzweifelt stehe ich da, am Abgrund tief getroffen
Missverstanden, das Herz gebrochen
Ein Schuss, ein Sprung, ein letzter Schlaf
Der Wille zum Weiterleben nicht mehr da
Am Tor des Glaubens, nun angekommen
Von den Qualen befreit und das Leben genommen
"
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